P. Solomon Raj

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Meine Heimat, mein Glaube, meine Kunst

Solomon Raj über sich selbst

1.  Biographie und Kunst
Mein Geburtsort liegt an der Ostküste Südindiens, wo der Godavarv-Fluss in die Bucht von Bengalen mündet. Mein Vater war ein Dorfschullehrer und gehörte noch zu jener Generation, die nicht nur versuchte, den einfachen Dorfbewohnern Lesen und Schreiben beizubringen, sondern die sich auch um ihr geistiges Wohlergehen kümmerte.
Schöne Natur Ich betrachte es als besonderes Glück, an einem Ort geboren zu sein, der sowohl wegen seiner landschaftlichen Schönheit als auch wegen seiner reichen Kunstschätze gerühmt wird. Strahlender Sonnenschein das ganze Jahr hindurch, farbenprächtige Blumen und reichtragende Obstbäume, hochaufragende Kokospalmen an den Ufern des Godavary, der sich in viele Verzweigungen aufteilt, bevor er in das Meer mündet, die Fischer und ihre Netze, ihre Holzboote, die Lieder, die sie bei der Arbeit singen, und ihr Brauchtum - all dies sind bleibende Eindrücke meines Lebens, Erinnerungen, die immer wieder in meinen Träumen aus den tieferen Schichten meiner Seele aufsteigen. Selbst lange Jahre des Stadtlebens, des Reisens und Studiums vermochten nicht, diese Erinnerungen auszulöschen.
Reiche Kunstschätze Indien ist an Kunstschätzen nicht weniger reich als an landschaftlicher Schönheit. Im Telugu-Land weisen die darstellenden Künste, die mündlich überlieferte Literatur, die Liedkunst, Tanz und Theater auf eine vielhundertjährige Tradition zurück. Insgesamt kennt man dort 64 verschiedene "Künste", zu denen man allerdings auch so extravagante Fertigkeiten zählt wie die Jagd oder das Glücksspiel. Immerhin rechnet man 16 zu den sogenannten"schönen Künsten".
Faszination der Malerei und Plastik Davon zogen mich schon in frühester Jugend besonders die Malerei und Plastik an, ebenso der Tanz und das Lied. Man erzählte mir schon als Kind von den Wandmalereien, den Steinfiguren und Friesen der Höhlentempel von Ajanta und Ellora, von den grossartigen Skulpturen in den Tempeln von Elephanta und Mahabalipuram, die in den gewachsenen Felsen gehauen sind. Ich hörte bereits früh von den Mahavir-Geschichten der Jains, auf Palmblätter geschrieben und mit Bildern illuminiert, und ich sah einige der besten Miniaturen der Deccan-Schule. In jungen Jahren lernte ich die Aquarell-Maler der "Delhi-Schule", die sogenannte "neo-bengalische Schule" und die "Andhra"-Künstler wie D. Ramarao kennen, der auf dem Höhepunkt seines Ruhmes in jungen Jahren starb. Von grossen Künstlern wie ihm, von den schon damals bedeutenden Kunstrichtungen und -schulen träumten die jungen Menschen in jener Zeit.
Begeisterung für unsere Kultur Als ich mit dem Studium begann, konnte man eine neue Welle nationalen Stolzes beobachten, eine wieder aufbrechende Begeisterung für unsere alte Kultur, die sich in vielen literarischen Zeugnissen und in der Wiederbelebung des Volksliedes und dem ganzen Reichtum der Volkskunst manifestierte. Diese Woge der Begeisterung riss uns förmlich mit wie die Flut, die am Morgen den Strand überspült und eine frische Brise über die Küste treibt. Viele junge Leute versuchten sich als Dichter und Dramatiker.
Blütezeit des Dramas

P. Solomon Raj:  Poorna Kumbh

In den vierziger Jahren, als ich ein junger Student war, erlebte das moderne Telugu-Drama (Prosa-Einakter) eine Renaissance, und einige der besten, kurzen sozialkritischen Dramen über zeitgenössische Probleme entstanden in dieser Zeit, aufgeführt von Laienschauspielern. Einige Titel, die Namen ihrer Autoren und sogar ganze Passagen, die wir auswendig lernten, als wir die eine oder andere Rolle in diesen Stücken übernahmen, tauchen sofort in meiner Erinnerung auf, wenn ich an diese Zeit denke.
[<< "Poorna Kumbh" bedeutet eine gefüllte Schale
oder ein übervoller Topf, Symbol des Wohlstandes.]
Musik und Tanz - Künste mit langer Tradition Wenn man die Entstehung der verschiedenen alten indischen Künste verfolgt, stösst man auf eine lange und reiche Entwicklungsgeschichte. Die Anfänge der einzelnen Künste liegen dabei vielfach im Dunkeln. Das gilt besonders für die Musik und die Tanzkunst. So lässt sich heute beispielsweise nicht mehr feststellen, wann Bharata das Buch "Natyasastra" geschrieben hat. Jahrhundertelang lernte man es auswendig, und man entwickelte für den sogenannten "Bharata Natyam", wie der klassische indische Tanz heute genannt wird, eine ausgefeilte Choreographie. Die darin festgelegten rhythmischen Bewegungen und komplizierten "Mudras", also jene charakteristischen und bedeutungsvollen Gesten, Schrittfolgen, Arm- und Handpositionen, stellen heute eine sorgfältig bewahrte und gepflegte Kunst dar.
Farbenprächtige Volkstänze Ausser dem Bharata Natyam gibt es viele Arten des Volkstanzes, die ihren Ursprung in den verschiedenen Regionen Indiens haben. Der Kuchipudi-Tanz aus Andhra, der Kathakali aus Kerala, der Bhangda-Tanz aus dem Punjab, der Odissi, der Manipun und die westindischen Tänze - sie alle sind typische und eigenständige Kunstformen. Sie bilden einen wertvollen Teil unseres kulturellen Erbes und lassen das ganze Spektrum kultureller Eigenständigkeit aufleuchten, das so farbenprächtig ist wie Pfauenfedem.
Niemand, der in einem an Kunst so reichen Land geboren ist, kann sich einer solch prägenden Kraft völlig entziehen, die von der täglichen, oft nur beiläufigen Begegnung mit Kunst im weitesten Sinne ausgeht. Während man im Betondschungel moderner Städte erstickt am Lärm der Maschinen, an den Abgasen der Fabriken und der Schwüle schmutziger Vorstädte, kommt man sich in meinem Heimatland vor, als atme man geradezu den gesamten Reichtum landschaftlicher und künstlerischer Schönheit wie duftende Frische in tiefen Zügen ein.
Kunst und Religion

"The Mandela"

To the centre, to the centre
to the heart of the Mandela
my soul flies.  Into the silence
of the mothers womb
to the bosom of the one
who gave me birth
to the stillness and the peace
of the speechless regions
to the silent communion
of the alone with the Alone
my sol flies.

Batik von P. Solomon Raj

In Indien ist wie in vielen anderen Ländern auf der Welt die Kunst ganz eng mit der Religion der Menschen verbunden. Man kann sogar sagen, dass es in Indien keine eigentlich weltliche Kunst an sich gibt. Alles künstlerische Schaffen ist sowohl mit dem Alltagsleben als auch mit dem Streben des Menschen nach Höherem verbunden, und die Trennungslinie zwischen Profanem und Religiösen ist sehr dünn, beide Bereiche gehen oft in einander über. Der erste Musikunterricht beispielsweise, den ein Kind erhält, ist das Erlernen eines Bittgesanges an die Göttin des Wissens, Saraswathi, und an den elefantenköpfigen Gott Vinayak, der, so glaubt man, alle Hindernisse aus dem Weg des Menschen räumen kann. Das lernt also bereits ein Kind in seinen ersten Musikstunden unabhängig davon, welcher Religion es angehört.

Tanz und Tanzdrama Der Tanz, um ein anderes Beispiel zu nennen, ist mit Shiva verbunden, einem Gott der dreifaltigen Gottheit des Hinduismus, und er ist ein Abbild des "kosmischen Tanzes", der immer wiederkehrenden Schöpfung und Zerstörung. Die meisten Tanzdramen in den unterschiedlichen Sprachen der verschiedenen Regionen Indiens haben als Thema Geschichten aus der Welt der Götter, ihrer Menschwerdung und ihrer Taten auf Erden. Die Künstler, die die Geschichten von "Bhagavan" (Gott) in Lied- und Tanzform erzählen, nennen wir "Bhagavathars", d. h. wörtlich übersetzt ,Erzähler von Gottes-Geschichten'.
Der Kuchipudi-Tanz Wo ich geboren bin, gibt es ein Dorf namens Kuchipudi, das eine besondere Tanzform entwickelt hat, benannt nach diesem Dorf. Der Gründer dieses Tanzes hat alle männlichen Mitglieder von Bramanen-Familien in der Kunst dieses Tanzes unterwiesen und ihnen befohlen, ihr Wissen von Generation an Generation weiterzugeben. Auf diese Weise ist die Tradition dieses Tanzes schon über 200 Jahre lang gepflegt worden.
Heiliges Handwerk der Tempel-Künstler Der reiche Figurenschmuck unserer Tempel und die Wandmalereien erzählen ebenfalls die Geschichten von Göttern und Göttinnen. Die Künstler, die diese Figuren und Bilder herstellten, gaben ihr Wissen und ihre Fertigkeit als Erbe an ihre nachfolgenden Generationen weiter, so dass ihr Beruf als ,Tempelkünstler', ein heiliges Handwerk, in derselben Familie blieb. Stella Cramrisch hat treffend formuliert, dass die vielen Götter Indiens wohl schon längst nicht mehr auf Erden wären, gäbe es nicht ihre Abbilder in Stein und Bronce und ihre Tempel.
Überlieferte Kunstformen ,heidnisch' Als die westlichen Missionare nach Indien kamen, fanden sie viel ,heidnischen Götzendienst' vor, wie sie es nannten, und sie stempelten jene als ,unwissend' und ,abergläubisch' ab, die nicht von diesen überlieferten Kunst- und Verehrungsformen ablassen wollten. Damals führte man westliche Bildung ein, um, wie einer der Gouverneure der britischen Ostindien-Company es formulierte, ,eine Generation von Indem zu erziehen, die zwar von der Gesichtsfarbe und dem Aussehen Inder, in ihren Ansichten und ihrer Einstellung aber Europäer seien'.
Indische Kunst immer im religiösen Kontext P. Solomon Raj:  Einzug in JerusalemGleichgültig, ob die bildenden Künste nun heidnisch waren oder zum Götzendienst missbraucht wurden, wann und wo immer sie ihre Blütezeit erlebten, sie entstanden im religiösen Kontext. Ob es sich um rituelle Tänze von Stammesmitgliedern handelte, um die Höhlen- und Wandmalereien der Ureinwohner oder die Tätowierungen, mit denen die Männer mancher Völker ihre Körper verzierten, oft standen rituelle und religiöse Vorschriften und Überzeugungen dahinter. Wenn die Menschen etwa tantrische Muster und magische Figuren auf den Boden vor ihren Häusern zeichneten, dann wollten sie damit die bösen Kräfte überwinden und die guten Geister der Natur besänftigen und ihren Beistand gewinnen.
Rituelle Reinigung des Bildhauers Die besten Bildhauer in Indien sind heute diejenigen, die für die Tempel die Gold- und Silberbilder der Götter herstellen. Wenn solch ein Tempelbildhauer' ("Sthapathi") ein Götterbild herstellt, folgt er uralten ikonographischen Vorschriften und Ritualen. Er unterzieht sich zum Beispiel einer rituellen Reinigung, bevor er sein Werkzeug anrührt, ob er nun eine Skulptur aus Stein oder Bronce herstellt. Er glaubt, dass das Material von göttlicher ,Macht' erfüllt wird, wenn er es künstlerisch gestaltet und im Tempel oder an einer anderen Gebetsstätte aufstellt. Das blosse Abbild wird dann als ein Objekt der Verehrung und Anbetung mit ,Macht' erfüllt, sobald es an seinem Platz steht.
Geheimnisvolle Kraft der Ikonen Die Ikonen von Byzanz oder die des alten Russlands sind ja auch mehr als blosse künstlerische Artifakte. Sie sind Kultgegenstände, die man für die private Meditation ebenso verwendet wie für Prozessionen und Gottesdienst. Auch von ihnen glaubt man, dass sie eine geheimnisvolle und wunderbare Kraft besitzen, sobald sie als reines Kunstwerk vollendet und dem Gebrauch im Gottesdienst geweiht sind.  Deshalb fasst der Ikonenmaler das Malen als einen Akt des Gebetes auf, als "Sadhana" oder als ,geistliche Übung'. So zündet er normalerweise erst eine Kerze an, liest seine griechische Bibel und spricht ein besonderes Gebet, mit dem er Gottes Segen auf sein Werk herabflehen will. Nicht zuletzt deshalb hat man früher wie heute das Malen von Ikonen den Mönchen in den Klöstern übertragen.

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