4. Ausblick
[-12-]
Lassen
Sie uns einen Blick in die Zukunft tun. Welche Entwicklung wird die
christliche Kunst in Indien vermutlicher weise nehmen?
An den Anfang gehört die erfreuliche Feststellung, dass unter den
Christen das Bewusstsein wächst für die Wechselbeziehung zwischen dem
Wort der Heiligen Schrift und den bildhaften Darstellungen der Kunst.
Dieser Aspekt der Menschwerdung des Evangeliums erfährt Aufmerksamkeit,
wenn auch mit Verspätung.
Heutzutage sind nicht mehr viele Christen in der Befürchtung befangen,
religiöse Kunst könne sich als Götzendienst entpuppen.
M. Lederle hat zu Recht darauf hingewiesen, dass hinduistische Künstler
sich christlichen Themen zuwenden, um die Verhältnisse der eigenen
Gesellschaft zu kritisieren oder versteckte Probleme aufzudecken.
Wenn christliche Künstler sich indisch ausdrücken, so bedeutet das eine
Integration in die Hauptströme der indischen Kultur. Wir hoffen, dass
beide Trends sich fortsetzen und Frucht tragen.
Dank des wachsenden Bewusstseins für die Probleme der Dalits und dank
einer grösseren Sensibilität unter Schriftstellern und Künstlern für
Fragen der sozialen Gerechtigkeit wird das elitistisch-elitäre Element
abnehmen, und die Kunst der einfachen Leute, eine proletarische Kunst,
wird im zukünftigen Indien an Bedeutung gewinnen. Hinweise darauf erkenne
ich in meiner Muttersprache Telugu und in den Kunstrichtungen meiner
Heimatregion in Andhra Pradesch. Sudhir Bairagi ist als einer der
Künstler bereits genannt worden, die ihre Aufmerksamkeit zunehmend den
Problemen der Armen zuwenden.
[-13-] Theologen und Kirchenführer sind heutzutage mehr als früher an
der Inkulturation des Evangeliums und am Dialog mit anderen Religionen
interessiert. Das wird seine Auswirkungen haben auf die christliche Kunst.
Die Hoffnung ist, dass diese Entwicklung den christlichen Künstlern
helfen wird, sich eindringlicher und klarer auszudrücken - und sich dabei
der Kunstformen der eigenen Kultur zu bedienen.
In theologischen Seminaren und kirchlichen Institutionen nimmt das
Interesse an indischer Kunst ebenfalls zu. Im vergangenen Jahr hat das
United Theological College (UTC) in Bangalore mehrere Künstler
eingeladen, ihre Arbeiten im College zu zeigen, und ausserdem gab es eine
gesamtindische Ausstellung christlicher Kunst. In den kirchlichen
Ausbildungsstätten erschweren es aber die am Lehrplan der Universität
von Serampore ausgerichteten Unterrichtspläne mit ihrem Schwergewicht auf
den akademischen Disziplinen, dass der Kunst derzeit mehr Aufmerksamkeit
zugewendet wird.
Erfreulich sind auch die Anzeichen dafür, dass mehr und mehr junge
Christinnen und Christen sich in Indien aktiv der Kunst zuwenden. Die 'lndian
Christian Arts Association' (ICAA) ist ein wichtiges Form, und die 'Asian
Christian Arts Association' (ACAA) gibt viel dringend benötigte
Unterstützung. Die Zeitschrift 'Prathima', das indische Gegenstück zu
'Image', der Zeitschrift des ACAA, ist bei ihren Lesern zunehmend beliebt.
Natürlich ist es wichtig, dass die christlichen Künstler ihrerseits
imstande und willig sind, ihre eigenen Arbeiten einer kritischen
Diskussion zu stellen und zugleich anderen zu helfen, Inhalte und Formen
der künstlerischen Arbeit auf gescheite Weise zu reflektieren.
Wir brauchen Künstler wie Jyothi Sahi, die ein solides Urteilsvermögen
haben, wenn es darum geht, tiefschürfend über christliche Kunst
nachzudenken. Die Beziehung zwischen Kunst und Glauben einerseits und
zwischen Kunst und Kultur andererseits bedarf einer ernsthaften
Begleitung.
[-14-] Schliesslich ist da noch das alte Problem einer nur dürftigen
Förderung derer, die christliche Kunst schaffen. Die Kunstgalerien in
Indien, die in den Händen der Hindus sind, stellen unsere Arbeiten nicht
aus. Irrigerweise wird unsere Kunst meistens als Werbung für das
Christentum gebrandmarkt und abgetan. Die wenigen möglichen Orte, an
denen man ausstellen könnte, sind teuer, und wir können uns hohe Kosten
nicht leisten. Der Gedanke, dass christliche Künstler sich in Ashrams
zusammentun – wie in Jyothis Vishram oder bei mir im St. Lukas Ashram in
Vijayawada – füllt die Lücke nur zum Teil. Aber vielleicht ziehen
solche Ashrams ja junge Künstler an, an solchen Orten ungestört zu
arbeiten, sich künstlerisch voll zu engagieren und sich zugleich mit
anderen auszutauschen. Solche Ashrams sind auch geeignete Foren für
christliche Künstler, um nichtchristlichen Kollegen und Kolleginnen zu
begegnen.
Einige der genannten Entwicklungen sind Grund zu berechtigter Hoffnung
für die christliche Kunst in Indien und für die Kunstschaffenden selber.
Diese Künstler suchen ihren Platz in der Welt der Kunst. Sie leisten
einen erkennbaren Beitrag zu den Schönen Künsten iin allgemeinen und zur
christlichen Kunst im besonderen.
Impressum
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[-15-]
Dieses
Referat "Christliche Kunst in Indien" hielt S. Raj am 8. Juni
1996 bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar, übersetz von
Pfarrer Jörg Müller. Tagungsthema war: "Bild und Wort – Zur Hermeneutik
christlicher Kunst in Asien und Afrika".
Das Titelbild "Christus und die Flüchtlinge" ist ein
Holzschnitt des Autors von 1973 aus seinem Buch "Palm Leaf Prayers",
hg. von S. Raj, deutsch bei der VEM Wuppertal 1995, 2. Auflage.
Die Drucklegung dieses Referates besorgte dankenswerterweise die
Vereinigte Evangelische Mission VEM, Referat Öffentlichkeitsarbeit,
Postfach 20 19 63, 42219 Wuppertal.
Unter dieser Anschrift sind auch Diaserien zu Batiken von S. Raj
erhältlich.

Dr. Jôrg Müller,
Lessingweg 9, 32457 Porta Westfalica,
Tel. + Fax 0571/75700 |