1.
Historischer Hintergrund
In
Indien ist Kunst ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens.
Das gilt im besonderen für das religiöse Leben im Volk.
Der Hinduismus kennt eine hohe Wertschätzung von Schönheit und
Kreativität. Zu allen Zeiten haben Kunst und Handwerk unter dein Patronat
der Tempel und religiöser Institutionen geblüht. Sie wurden gefördert
durch Künstlergilden und Handwerkerzünfte. Einige der Handwerke werden
als Berufung und Beruf von bestimmten Kasten in Erbfolge ausgeübt. So
kommen z. B. die Erbauer von Tempeln, die Verfertiger von Götterfiguren,
die Tänzerinnen und Tänzer, die Musikantinnen und Musikanten aus
bestimmten hinduistischen Kasten oder aus Unterteilungen von Kasten.
In der Gestaltenden Kunst, also in Malerei und Bildhauerei, kann man davon
ausgehen, dass es keinen speziellen Stil gibt, sondern nur die spezielle
Anwendung eines zur gegebenen Zeit am gegebenen Ort herrschenden Stils.
Mit anderen Worten: nicht der Kunstschaffende ist wichtig, sondern die
künstlerische Richtung der Epoche bzw. eines Landstrichs. Damm gibt es
die Kunstwerke der Pahadi-Schule, die Malerei aus Rajasthan,
die Basohli-Miniaturen, die Bengali-Schule, usw. Die jeweiligen
Künstler haben ihre Werke niemals signiert. Es ist ähnlich, wie es bei
den byzantinischen Künstlern war. Man sagt dass künstlerisches Genie
nicht eine individuelle Leistung ist, sondern schlicht und einfach etwas
zu tun hat mit der gesellschaftlichen Lebensqualität einer Epoche.
In einer Ausführung über die geschichtliche Bedeutung von Volk und
Kultur als Nährboden für künstlerische Kreativität stellt K. G.
Subrahmanyan fest: "Eine bildhafte Vorstellung wird durch die Person
des Künstlers lebendige Wirklichkeit nur in dein Mass, wie die
individuelle Vorstellung aus einem kulturellen Zusammenhang genährt wird
und wächst".
A. K. Coomaraswamy erklärt die Syntax der indischen Kunst, indem er
sagt:
1. Die indische Kunst ist bestimmt durch die vertikale Projektion
bzw. Perspektive, nicht aber durch die sog. Fensterperspektive. Das hat
zwei Vorteile: erstens gibt es keine Überlappungen, durch die die
Gestalten im Vordergrund die Gestalten im Hintergrund verdecken; zweitens
wird der Betrachter selber mit in das Bild einbezogen, ähnlich wie bei
der Umkehrperspektive der byzantinischen Kunst.
2. In der indischen Malkunst finden wir häufig die Methode der
fortlaufenden Erzählung. Interessanterweise habe ich die gleiche Methode
in orthodox-christlichen Manuskripten in Äthiopien gefunden. Meine
Holzschnitte "Einzug in Jerusalem" und "Hochzeit zu Kana"
sind ähnlich konzipiert.
3. In der indischen lkonographie erscheinen die Gottheiten
üblicherweise in mehrarmiger Darstellung. A. K. Coomaraswamy geht
auf dieses Phänomen ein mit einer wichtigen Buchveröffentlichung, dem
Band "Tanz Shivas". Obgleich vielgliedrige Gottheiten
schon in den Veden erwähnt werden, entstanden vermutlich die
ersten Bilder solcher Götter erst nach dem ersten nachchristlichen
Jahrhundert.
Silpa Sasthras und Malbücher haben sehr strenge Regeln für die
bildhauerische bzw. zeichnerische Darstellung des menschlichen Körpers
festgelegt. Daher rühren Ausdrücke wie 'simhamadhyama' (breitschultrig-schmalhüftig
wie ein Tiger), 'ajaanubahu' (langarmig), 'chakra kucha'
(mit abgezirkelt runden Brüsten), usw.
[-2-]
Zusätzlich zu den genannten anatomischen Festlegungen gibt es zahlreiche
Posen der Hände, unter den Kennern der klassischen Kunst Indiens bekannt
als 'hastha mudras'. Dazu gehört auch, dass eine vielhändige
Gottheit mit bestimmten Attributen ausgestattet ist und gleichzeitig 'chakra',
das Rad, 'gadha', die Keule, 'agni', die Feuerflamme, 'shanku',
die grosse Seemuschel, eine Trommel oder eine Lotusblüte hält. Häufig
werden die Gottheiten durch die Gegenstände identifiziert, die sie in
Händen halten. Auch lässt die körperliche Erscheinung insgesamt den
Charakter oder den sozialen Stand einer Person erkennen. Ich werde noch
darauf eingehen, dass das Jesuskind in manchen indischen
Krippendarstellungen eine hellere Hautfarbe hat als seine Mutter Maria.
Hautfarbe und Frisur vermögen in der indischen Kunst den Beruf und den
gesellschaftlichen Rang einer Person kenntlich zu machen.
Die Künstler Indiens haben immer das Ideale, das Schöne und Erfreuliche
dargestellt. Darum
gibt es im klassischen indischen Drama keine Tragödien und in der
früheren darstellenden Kunst so gut wie nie den Ausdruck von Trauer und
Traurigkeit. Selbst die Darstellung eines weinenden Menschen muss die
Person in einer gewissen Anmut zeigen. In der Moderne ist das anders. Wenn
hinduistische Künstler sich an christlichen Themen versuchen, sind sie
nicht selten fasziniert von Christi Kreuz und Todeskampf. Dies ist ein
Ergebnis der sozialpolitischen Befreiungsbewegung, durch die in jüngerer
Zelt manchen Künstlern die Augen für die Realität menschlichen Leids
und Leidens geöffnet wurden.
Weil die Arbeit der Künstler Indiens immer als eine
heilige Berufung angesehen worden ist, wurde der Vollzug solcher Berufung
als 'sadhana' verstanden, als geistliche Übung, und der Künstler
als ein 'sadhaka', immer bestrebt, die unerreichbare Vollkommenheit
zu erreichen. Daraus wiederum ergibt sich die Notwendigkeit, dass der
Künstler einen 'guru' als Lehrer braucht und dass die geistliche
Übung in der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von 'ashrams' getan
wird. Die Entsprechung dazu [-3-] sind die Mönche, die im
europäischen Mittelalter in klösterlicher Gemeinschaft als Teil ihres
kontemplativen Lebens lkonen malten.
Shantiniketan ist der Name des ersten Ashrams dieser Art, der im
wiedererwachenden Indien zur Wiege der neuen indischen Kunst wurde. Es war
ein Ort, an dein Künstler in der freien Natur lebten und in einer freien
und ungebundenen Weise schaffen konnten. |